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Mondschatten über Mecklenburg

Die ringförmige Sonnenfinsternis am 17. April 1912

Bericht über die historische Sonnenfinsternis von Stephan Heinsius nach Augenzeugenaussagen von Else Schumann


Begeben wir uns auf eine Zeitreise, zurück ins Jahr 1912, in das damalige Deutsche Reich, das noch vom Kaiser regiert wurde, und das von den bevorstehenden Katastrophen der Kriege und Gewaltherrschaft noch verschont war. Für unseren Besuch haben wir die kleine Stadt Grabow in Mecklenburg ausgewählt, die etwa auf halber Strecke zwischen Hamburg und Berlin liegt. Dort finden wir, aus Richtung Ludwigslust kommend, auf dem stadteinwärts führenden Steindamm an der Stelle, an der die bis dahin gerade verlaufende Pflasterstraße eine Linkskurve macht, rechts ein prächtiges Backsteingebäude, an das sich das weitläufige Gelände der Goldleistenfabrik Th. Heinsius anschließt. Gegenüber erblicken wir das Haus des Arztes Dr. Schumann, der vor vier Jahren dort mit seiner Familie eingezogen ist. Durch die große Toreinfahrt des Hauses, die noch aus früheren Tuchmacherzeiten stammt, kann der Arzt mit seinem Pferdefuhrwerk ein- und ausfahren, um zu seinen Patienten zu gelangen.

Es ist Mittwoch morgen, der 17. April 1912. Die Zeitungen berichten, dass an der nordamerikanischen Küste der englische Riesendampfer "Titanic" mit einem Eisberg zusammengestoßen und im Sinken begriffen sei. Sämtliche Passagiere seien gerettet worden.

Anders als diese Meldung hat aber die gestrige Wettervorhersage, die ruhiges, trockenes, vielfach heiteres Wetter, und am Nachmittag sogar Wärme versprochen hat, Recht behalten. Die mecklenburger Aprilsonne scheint uns aus östlicher Richtung entgegen, und beschert uns einen schönen Frühlingstag.

Noch wenige Tage zuvor hatte es einen heftigen Wintereinbruch mit Schneefällen und Nachtfrösten über ganz Deutschland gegeben. Doch heute scheint das Wetter den Blick auf die bevorstehende Sonnenfinsternis freizugeben. Schon seit Tagen wird viel über das seltene Himmelsereignis gesprochen.

Die Sonnenfinsternis am 17. April 1912 war eine der besonders selten erscheinenden Hybridfinsternisse, die in ihrem Verlauf zunächst ringförmig, dann über einen Teil des Finsternisgebietes total, und schließlich wieder ringförmig erscheinen. Während bei der totalen Verfinsterung der Sonne der Mond nahe genug an der Erde ist, um die Sonne vollständig abzudecken, ist er während der Ringförmigkeit der Finsternis dafür zu weit entfernt. Während der maximalen Verfinsterung bleibt noch ein Ring aus Sonnenlicht um den Mond herum stehen. Am 17. April 1912 befand sich der Mond aber gerade so weit von der Erde entfernt, dass aufgrund der Erdkrümmung nur ein Teil der Beobachtungsorte auf der Erdoberfläche nah genug am Mond waren für eine totale Bedeckung. An anderen Orten aber war die Entfernung dafür zu groß, und die Sonnenfinsternis war nur ringförmig zu beobachten.

In der Mittagszeit des 17. April 1912 näherte sich der Kernschatten des Mondes, vom Atlantik kommend dem europäischen Festland, das er in Portugal erstmals erreichte. Der nur wenige Kilometer breite Kernschattenbereich des Mondes zog, sich ständig verkleinernd, in nordöstlicher Richtung über Frankreich auf Belgien und die Niederlande zu. Doch noch bevor er die belgische Grenze erreichte, verließ er die Erdoberfläche und eilte mit größer werdender Höhe über Norddeutschland hinweg in Richtung Baltikum. Die Zone der Ringförmigkeit, die direkt unterhalb des Kernschattens liegt, verlief entlang einer Linie Duisburg, Essen, Münster, Minden, Osnabrück, Nienburg, Hagenow, Greifswald und Lauterbach.

Grabow liegt einige Kilometer südlich dieser Zone, so dass dort der nahe Kernschatten für den Anblick einer sehr schmalen Sonnensichel sorgte (siehe Abbildung).

Sonnenfinsternis am 17.04.1912 in Grabow

Die maximale Phase in Grabow um 13:26:14 Uhr
Quelle: Arnold Barmettler, www.CalSKY.com

Es ist kurz vor Mittag. Noch bemerkt man nicht, dass der Mond begonnen hat, sich langsam und scheinbar unaufhörlich vor die Sonne zu schieben. Nach und nach wird das Licht fahler, doch dass es langsam dunkler wird, fällt noch nicht auf. Viele Leute sind draußen, um die Sonne zu beobachten. Sie haben sich beim ortsansässigen Fotografen Glasplatten besorgt, die sie mit Ruß beschwärzt haben. Die Glasplatten werden vom Fotografen für die Herstellung der Foto-Negative verwendet, und bieten eine einfache Möglichkeit, einen Sonnenfilter herzustellen.

Eine sichere Beobachtung der Sonne bot diese Methode jedoch nicht, da das für das Auge nicht sichtbare, aber dennoch gefährliche Infrarotlicht Ruß weitgehend durchdringt und somit Augenschäden verursachen kann. Sicherer war es, wenn die Glasplatte vorher komplett durchbelichtet wurde. Das schwarze Negativ konnte dann, anders als bei den später üblichen Negativ- und Farbnegativfilmen, auch die nicht sichtbaren Anteile des Sonnenlichts stark genug abschwächen, um eine Schädigung der Augen zu verhindern.

Neben dem Haus von Dr. Schumann, gerade in der Kurve des Steindamms, gibt es eine Lücke zum Nachbarhaus, die von der Straße aus frei zugänglich ist. Von dort aus ist die Sonne über den Dächern der Goldleistenfabrik gut zu beobachten.

Hier treffen wir auch die 13-jährige Else Schumann, eine Tochter von Dr. Schumann. Sie beobachtet zusammen mit der Nachbarschaft die sich weiter verfinsternde Sonne, und ist schon eine ganze Weile dabei.

Elsie, wie sie auch liebevoll genannt wird, und all die anderen erleben durch den Blick durch ihre geschwärzten Glasplatten, wie die Sonne inzwischen zu einer schmalen Sichel zusammengeschrumpft ist. Es ist nun deutlich dunkler geworden. Die Wärme, die noch vor rund einer Stunde zu spüren war, ist vergangen. In den Häusern werden die Gaslampen entzündet.

Inzwischen ist die Sonne durch die Glasplatten kaum mehr zu sehen. Der Mondschatten saust unhörbar einige Kilometer nördlich über die Köpfe der Grabower hinweg.

Nach und nach ist zu sehen, wie die Sonnensichel wieder wächst. Sie hat sich scheinbar gedreht, und mit zunehmender Sonnensichel wird es wieder heller, und die Sonne beginnt wieder Wärme spüren zu lassen. Am frühen Nachmittag gegen halb drei ist alles vorüber. Der Mond hat die Sonnenscheibe verlassen, so als ob nichts gewesen wäre. Doch die Sonnenfinsternis hat einen großen Eindruck auf Elsie und die Anderen hinterlassen. Es wird noch viel über die Sonnenfinsternis gesprochen.

Auch auf dem nahegelegenen Gelände der Goldleistenfabrik wurde die Sonnenfinsternis beobachtet. Dort werden sich Elsies Freunde, die drei Kinder des Fabrikbesitzers Albert Heinsius befunden haben. Da noch Osterferien sind, konnten Elsie und die anderen Kinder und Jugendlichen in Grabow die Sonnenfinsternis beobachten, ohne ihre schulischen Pflichten zu vernachlässigen.

Nach diesem beeindruckenden Erlebnis verlassen wir Grabow wieder und auch das Jahr 1912. Wir sehen nach, wann denn der Mondschatten das nächste Mal Deutschland besucht und stellen fest, dass dies am 11. August 1999 der Fall ist. Dieses Mal reicht der Mondschatten bis zum Boden und kommt über die französische Grenze nach Süddeutschland herein, um Karlsruhe, Stuttgart und München zu besuchen, und dann weiter nach Österreich zu ziehen.

Am 11. August 1999 sehen wir viele Wolken über Süddeutschland. Millionen von Menschen haben sich mit Sonnenfinsternisbrillen ausgestattet und sich in den Streifen der Totalitätszone begeben. Doch die meisten von ihnen erleben eine dunkle Dusche im Mondregen ohne direkten Blick auf die total verfinsterte Sonne. Einige in Karlsruhe und München haben Glück und sind verzaubert vom Blick in die schwarze Sonne.

Wir sehen in Grabow nach. Elsies Freunde haben inzwischen diese Welt verlassen, wir finden ihre Gräber auf dem Grabower Friedhof. Aber Elsie treffen wir wieder persönlich an. Sie hat vor ein paar Monaten ihren 100. Geburtstag gefeiert. Sie lebt noch im selben Haus, und erlebt die Sonnenfinsternis wieder hier.

An Stelle der geschwärzten Fotoplatten tragen die Leute auch in Grabow nun Sonnenfinsternisbrillen. Die Sonnensichel ist nicht so schmal wie 1912, aber anders als viele der Menschen in Süddeutschland haben Elsie und die anderen Grabower gutes Beobachtungswetter.

In Fernsehen und Zeitungen wird bereits seit Tagen über die Sonnenfinsternis berichtet, und die Totalität wird aus Flugzeugen heraus live im Fernsehen übertragen.

Und wieder hat die Sonnenfinsternis die Menschen beeindruckt. Sie wissen, dass es eine lange Zeit dauern wird, bis der Mondschatten wieder nach Deutschland kommen wird. Einige sind fest entschlossen, dem Mondschatten zu folgen und mit ihm fremde Länder zu besuchen, da sie wahrscheinlich, anders als Elsie, es nicht mehr erleben werden, bis der Mondschatten ein zweites Mal zu ihnen nach Hause kommt.

Die nächste totale Sonnenfinsternis in Deutschland findet am 3. September 2081 statt. Am 31. Mai 2003 gibt es jedoch eine tiefe partielle Sonnenfinsternis während des Sonnenaufgangs. Dabei werden in Grabow ca. 90% der Sonne vom Mond verdeckt sein.

Stephan Heinsius, ein Urenkel von Albert Heinsius, im April 2001 und Februar 2002.

 

Meldung auf der Titelseite des Ludwigsluster Tageblatts vom 20. April 1912:

Hagenow, 17. April. Die Hamburger Sternwarte hatte zur Beobachtung der ringförmigen Sonnenfinsternis eine Expedition nach hier entsandt, an welcher unter Leitung des Observators Dr. Graff die Oberlehrer Dr. Hillers, Lindemann, Caspar und Semmelhack aus Hamburg und der Leiter des physikalischen Laboratoriums v. Ruhmer (Berlin) teilnahmen. Es gelang, die Lage der zentralen Zone festzulegen, die sich als genau durch Hagenow verlaufen erwies. Die Dauer der ringförmigen Phase wurde auf 3 bis 5 Sekunden geschätzt. Es wurde eine große Zahl von photographischen Aufnahmen gemacht. Es gelang, Protuberanzen im südwestlichen Sonnenrande zu sehen, doch konnte die Corona nicht mit Sicherheit erblickt werden. Die Abnahme der Tageshelligkeit war außerordentlich groß. Der Planet Venus konnte südwestlich von der Sonne wundervoll gesichtet werden.

Quellen:

  • Ludwigsluster Tageblatt vom 17.04.1912, 20.04.1912, Kreisarchiv Ludwigslust, Z34 1912 I
  • Augenzeugenbericht von Else Schumann vom April 2000
  • Berechnung des Sonnenbildes: www.CalSKY.com (Arnold Barmettler)

Einen weiteren Bericht über diese historische Sonnenfinsternis (aus Recklinghausen) gibt es auf Wolfgang Strickling's Sofi-1912-Seite.

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